Die Anfänge: Kraft, Kontrolle und klare Regeln
Als 1903 in Antwerpen die ersten Weltmeisterschaften ausgetragen wurden, standen Kraft, Kontrolle und Disziplin im Vordergrund. Männer turnten an klassischen Geräten wie Reck, Barren, Ringen, Pauschenpferd und Sprung. Die Übungen waren klar strukturiert, oft militärisch geprägt – Ausdruck war Nebensache.
Frauen durften erst ab 1934 teilnehmen – mit einer deutlich reduzierten Geräteauswahl und stark eingeschränkter Bewegungsfreiheit. Schweizerinnen nahmen sogar erst 1978 an einer Kunstturn-WM teil. Vorher trat die Schweiz nur 1967 mit Athletinnen an einer Europameisterschaft an.
Ihre Disziplinen – Sprung, Stufenbarren, Schwebebalken und Boden – entwickelten sich zunächst langsam, wurden aber bald zur Bühne für Eleganz, Ausdruck und technische Raffinesse. Besonders das Bodenturnen wurde zum Aushängeschild weiblicher Kreativität: Musik, Tanz und Akrobatik verschmolzen zu einer einzigartigen Form der Bewegungskunst.
Technik trifft Ästhetik: Die Evolution der Geräte
Nebst der Zulassung der Frauen, wurden auch die Geräte weiterentwickelt – nicht nur aus Sicherheitsgründen, sondern auch, um neue Bewegungsmöglichkeiten zu schaffen. Der Sprungtisch ersetzte das gefährliche Längspferd, moderne Bodenflächen federn besser, und die Stufenbarren sind heute höhenverstellbar und dynamisch.
Auch die Übungen selbst wurden komplexer. Elemente wie der «Tsukahara», «Yurchenkoû» oder «Biles» – benannt nach den Turner*innen, die sie erstmals zeigten – stehen für den Innovationsgeist des Sports. Auch die Bewertungssysteme entwickelten sich weiter: Seit 2006 gibt es keine Maximalnote von 10,0 mehr. Stattdessen zählt die Kombination aus Schwierigkeit (D-Score) und Ausführung (E-Score). Das motiviert Turner*innen, komplexere Elemente zu wagen – bei gleichzeitig höchster Präzision.
- Staldergrätsche (Stalder-Circles) am Reck / am Stufenbarren (Josef Stalder)
Er war der Erste, der die Grätsche vom und zum Handstand zeigte, und dieses Element trägt seinen Namen.
- Steingruber am Schwebebalken (Giulia Steingruber)
Ein gestreckter Auerbach-Salto rückwärts mit voller Schraube (360°) als Abgang vom Balken, offiziell benannt nach ihr.
- Baumann an den Parallelbarren (Christian Baumann)
Ein «rückwärts mit Makuts» - ein neues Element, das 2017 offiziell in das Code of Points der Fédération Internationale de Gymnastique FIG aufgenommen wurde.
Gleichwertig und doch einzigartig: Männer und Frauen im Vergleich
Während Männer traditionell an sechs Geräten antreten – Boden, Pauschenpferd, Ringe, Sprung, Barren und Reck – konzentrieren sich Frauen auf vier Disziplinen, die nicht weniger anspruchsvoll sind. Der Schwebebalken etwa verlangt höchste Präzision und mentale Stärke, der Stufenbarren ist ein Ort für fliegende Wechsel und komplexe Drehungen, und das Bodenturnen vereint Athletik mit künstlerischem Ausdruck.
Beide Geschlechter haben den Sport geprägt – mit unterschiedlichen Schwerpunkten, aber gleicher Leidenschaft. Die Weltmeisterschaften zeigen heute, wie sich Kraft und Eleganz, Technik und Emotion, Tradition und Innovation in perfekter Balance begegnen.
Von Disziplin zur Bewegungskunst – Turnen als Ausdruck der Zeit
Was einst als europäisch geprägter Männerwettkampf begann, ist heute ein globales Ereignis mit Athlet*innen aus allen Kontinenten. Die Disziplinen entwickeln sich weiter und neue Elemente entstehen. Die Weltmeisterschaften sind längst mehr als ein sportlicher Wettkampf: Sie sind ein Schaufenster für die Vielfalt, Kreativität und Schönheit des Turnens.