Je schneller, desto besser?

Der Pferdsprung gehört ist eine der sechs Disziplinen bei den Männern bzw. vier Disziplinen bei den Frauen im Kunstturnen. An diesem Gerät, wie auch an den anderen Geräten, gewinnt der*die Athlet*in mit der höchsten Endnote (F-Note). Die F-Note setzt sich aus zwei Bewertungen zusammen: dem Schwierigkeitsgrad (D-Note) und der Ausführung (E-Note). Daher müssen Turner*innen möglichst schwierige Sprünge mit einer perfekten Ausführung zeigen.  

Es ist naheliegend zu vermuten, dass die Anlaufgeschwindigkeit beim Pferdsprung ein wichtiger Faktor ist, um schwierige Sprünge zu realisieren. 

Die Studie von Schärer et al. (2019) hat sich genauer mit dem Thema auseinandergesetzt. Zum ersten Mal wurde in einem internationalen Wettkampf die Korrelation zwischen der Anlaufgeschwindigkeit, dem Schwierigkeitsgrad sowie der Flughöhe und -weite beim Pferdsprung im Kunstturnen untersucht. Dabei wurden auch Unterschiede zwischen Männern und Frauen, Elite- und Nachwuchsturner*innen sowie die verschiedene Sprungstile erforscht. Die Heim-EM in Bern in 2016 diente als Bühne für diese Studie.  

Das Forschungsteam hat bei 494 Pferdsprüngen die maximale Anlaufgeschwindigkeit gemessen. Zusätzlich wurden die E- und D-Noten aus den Ranglisten erfasst und die Höhe und Länge der Sprünge wurden anhand einer 3D-Videoanalyse berechnet.  

Anschliessend konnten die Korrelationen zwischen den Parametern und Unterschieden zwischen Alter, Geschlecht und Sprungkategorie dargestellt werden.

Die Anlaufgeschwindigkeit ist wichtig
Bei Frauen kann der D-Wert am Pferdsprung zu 64 Prozent durch die Anlaufgeschwindigkeit bestimmt werden, während diese Variation bei Männern nur etwa 42 Prozent beträgt. Daher spielt die Anlaufgeschwindigkeit eine entscheidende Rolle beim Pferdsprung.  

Für jeden Sprung gibt es einen optimalen Anlaufgeschwindigkeitsbereich
Für jeden Sprung gibt es altersunabhängige Anforderungen an Anlaufgeschwindigkeit. Innerhalb jeder Sprungkategorie (und Schwierigkeitsgrad) können daher optimale Anlaufgeschwindigkeitsbereiche definiert werden. Sobald diese Bereiche erreicht sind, führt eine noch höhere Geschwindigkeit grundsätzlich nicht zu zusätzlichem Mehrwert.  

Bei Turnerinnen gilt grundsätzlich je schneller desto besser
Grundsätzlich ist für Turnerinnen ein schneller Anlauf massgebend für bessere Ergebnisse. Frauen kommen am Pferdsprung näher an ihrer maximalen Sprintgeschwindigkeit als Männer und gehen damit ein grösseres Risiko ein. Turnerinnen können so mehr von einer höheren maximalen Sprintgeschwindigkeit profitieren.

Turner brauchen eine bestimmte Mindestanlaufgeschwindigkeit
Männer erzielen bei allen Sprungarten grössere Flughöhen und -weiten. Die ist auch auf die physiologischen Voraussetzungen des Oberkörpers zurückzufuhren. Somit müssen Männer nur eine bestimmte (hohe) Mindestanlaufgeschwindigkeit erreichen, um auch die schwierigsten Sprünge zeigen zu können. 

Die Anlaufgeschwindigkeit ist massgebend für die Wahl des Wettkampfsprunges
Bei der Auswahl des Wettkampfsprungs sollten sowohl die technischen als auch die physischen Fähigkeiten der Athlet*innen berücksichtigt werden. Die Ergebnisse der Studie bieten somit eine wertvolle Orientierung für den Trainingsprozess. 

Die Studie kurz erklärt

Welche Sprünge werden bei Frauen und Männern am häufigsten gezeigt?

Die folgende Grafik zeigt den Unterschied in der Prävalenz der gezeigten Pferdsprungarten bei beiden Geschlechtern. Es ist deutlich zu erkennen, dass es einen sichtbaren Unterschied gibt: Frauen zeigen wesentlich häufiger Yurchenko-Sprünge, während Männer hingegen überwiegend Tsukahara-Sprünge präsentieren.  

 FrauenMänner
Yurchenko-style51,0 %12,0 %
Überschlag-Salto24,5 %19,0 %
Tsukahara24,5 %69,0 %

 

Gibt es einen Unterschied zwischen Männer und Frauen bei den Anlaufgeschwindigkeit?

Im Vergleich zu den Frauen zeigten Männer bei Überschlag- und Tsukahara-Sprünge um 9 Prozent (Elite) und 8 Prozent (Junioren) höhere Anlaufgeschwindigkeiten. Ähnliches war auch bei der Sprunghöhe und Sprungweite zu beobachten: die Elite-Turner sind im Durchschnitt 17 Prozent höher und 37 Prozent weiter gesprungen als die Elite-Frauen.  

Bei den Junior*innen ist dieser Unterschied etwas geringer, aber dennoch signifikant: die Junioren konnten im Vergleich zu den Juniorinnen 12 % höher und 18 % weiter springen. Interessanterweise wurde bei den Yurchenko-Sprüngen kein Geschlechterunterschied bei der Anlaufgeschwindigkeit festgestellt. Allerdings waren die Sprunghöhe und -weite bei den Männern um 9 beziehungsweise 16 Prozent höher als bei den Frauen.  

Welche Unterschiede gibt es zwischen Elite- und Juniorathlet*innen?

Elite- und Juniorathlet*innen, die identischen Sprünge durchführten, erreichten ähnliche Anlaufgeschwindigkeiten.
Die zwei nachfolgenden Grafiken zeigen die erreichten und somit notwendigen und  optimalen Anlaufgeschwindigkeit für alle an der EM 2016 gezeigten Pferdsprünge bei Männern und Frauen. 

Gibt es ein Zusammenhang zwischen Anlaufgeschwindigkeit und dem D-Wert?

Grundsätzlich ja. Bei den Frauen wurde die Annahme bestätigt, während sie bei den Männern nur teilweise zutrifft. Der D-Wert bei den Frauen wird zu 64 Prozent   durch die Anlaufgeschwindigkeit bestimmt, während diese Variabilität bei Männern nur etwa 42 Prozent beträgt.  

Bei den Frauen scheint die Anlaufgeschwindigkeit ein potenziell grösserer limitierender Faktor für die Durchführung schwieriger Sprünge zu sein. Bei den Männern ist neben der Anlaufgeschwindigkeit auch der Einfluss der Oberkörperkraft, um einen höheren Impuls auf dem Sprungtisch zu erzeugen, nicht zu vernachlässigen. Es ist jedoch noch unklar, ob sich eine zu hohe Geschwindigkeit möglicherweise störend auf einen optimalen Abstoss auf dem Sprungtisch auswirken könnte.  

In der Juniorenkategorie sind die Korrelationen tendenziell geringer, insbesondere in Bezug auf die Anlaufgeschwindigkeit und die E-Note.

Welches sind die Hauptunterschiede zwischen Männern und Frauen?

Die Unterschiede in der Anlaufgeschwindigkeit bei Überschlag- und Tsukhara-Sprüngen zwischen Männer und Frauen lassen sich auch auf unterschiedlichen physiologischen und biologischen Voraussetzungen zurückführen. Insbesondere eine höhere relative Maximalkraft führt bei Männern allgemein zu höhere Sprintleistungen. Für Yuvchenko-Sprüngen hingegen erreichen beide Geschlechter ähnliche Geschwindigkeiten.  

Das bedeutet, dass weibliche Athletinnen Anlaufgeschwindigkeiten erreichen müssen, die ihrer maximalen Sprintgeschwindigkeit näherkommen als diejenigen der Männer. Es kann daher angenommen werden, dass Frauen ein höheres Risiko eingehen müssen.  

Männer erzielen bei allen Sprungarten signifikant grössere Flughöhen und -weite. Das deutet darauf hin, dass diese beiden Parameter auch von der Fähigkeit abhängig sind, explosiv vom Sprungtisch abzustossen (und vermutlich ist die Explosivkraft des Oberkörpers dafür verantwortlich).  

Zusammenfassend haben männliche Athleten eine grössere Fähigkeit, muskuläre Kraft zu erzeugen und einzusetzen, und können mehr horizontale und/oder vertikale kinetische Energie generieren. Dies ermöglicht es ihnen, Sprünge mit höherem Schwierigkeitsgrad zu zeigen. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass die Anlaufgeschwindigkeit nur teilweise für diese Unterschiede verantwortlich ist. 

Welche Unterschiede können zwischen Elite und Junioren beobachtet werden?

Die optimale Anlaufgeschwindigkeit scheint nicht altersabhängig zu sein, da identische Sprünge zu keinen statistischen Unterschieden zwischen Elite- und Juniorturnern führen. Im Allgemeinen sind nur geringe altersabhängige Unterschiede in den Parametern zu beobachten.  

Es ist sogar anzunehmen, dass jüngere Turnerinnen sogar bessere körperliche Voraussetzungen als die Elite haben, da das Verhältnis von Kraft zu Gewicht während der Pubertät negativ beeinflusst wird. Im Gegensatz dazu führt die Zunahme der Muskelmasse bei den Männern (und die konsequente positive Wirkung auf die Kraft) zu signifikanten altersabhängigen Unterschieden: Elite-Männer können deutlich höhere Geschwindigkeit generieren und grössere Flughöhen erreichen.

Welche Unterschiede gibt es zwischen den verschiedenen Sprungarten?

Überschlagsprünge
Überschlagsprünge erfordern in der Regel eine hohe Anlaufgeschwindigkeit, und nur Athlet*innen, die diese erreichen können, haben solche Sprünge bei der EM in Bern gezeigt. Sprünge mit Doppelrotationen um die Breitenachse und Sprünge mit einfachen Salti und Rotationen um die Längsachse während der zweiten Flugphase erfordern ähnliche Anlaufgeschwindigkeiten. Durch eine Überprüfung der Wertungsvorschriften kann definiert werden, mit welchen Sprungarten ein höherer D-Wert erreicht werden kann.

Tsukhara-Sprünge
Tsukahara-Sprünge werden bei Turnern am häufigsten und bei Turnerinnen am seltensten gezeigt. Diese Art von Sprüngen weist die grösste Variation in den Anforderungen an die Geschwindigkeit auf, was darauf hinweist, dass die Anlaufgeschwindigkeit entscheidend ist, um die Schwierigkeit zu steigern.
Der asynchrone Handkontakt auf dem Sprungtisch erschwert die Umwandlung der horizontalen Geschwindigkeit in Flughöhe, ebenso wie der Abstoss vom Tisch, der hauptsächlich mit einem Arm erfolgt. Dies erklärt die signifikante Korrelation zwischen Anlaufgeschwindigkeit und Flugweite in allen Kategorien und stellt eine Erklärung dafür dar, warum diese Art von Sprüngen bei den Turnerinnen selten zu sehen ist.

Yurchenko-Sprünge
Im Vergleich zu anderen Sprüngen werden Yurchenko-Sprünge mit den tiefsten Anlaufgeschwindigkeiten ausgeführt und es besteht kein Unterschied zwischen Männer und Frauen. Das Vorbereitungselement «Rondat» verkürzt die Anlaufstrecke und erfordert eine mentale Überwindung wegen des Rückwärtsabstoss auf dem Tisch und dies kann möglicherweise die Erklärung sein für die tiefere Geschwindigkeit.

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