Im Sport wird Gewalt oft nicht als solche erkannt

  • 7. Dezember 2023

  • Naomi Kempter

  • zvg

Im Gespräch mit Agota Lavoyer haben wir verschiedene Herausforderungen im Zusammenhang mit sexueller Gewalt erörtert und diskutiert, wie sich diese auf die Erkennung von Übergriffen auswirken. Allgemeine Mythen sollen thematisiert werden, um die Sensibilisierung, insbesondere im Sport, weiter voranzutreiben. Sexuelle Gewalt ist ein gesellschaftliches Problem, das auch im Bereich des Sports nach wie vor präsent ist.

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Zur Person

Agota Lavoyer ist Sozialarbeiterin und arbeitet seit rund zehn Jahren im Bereich der Opferhilfe. Seit zwei Jahren engagiert sie sich als selbstständige Expertin gegen sexualisierte Gewalt. Lavoyer setzt sich besonders intensiv für Präventionsarbeit ein und hat unter anderem das Buch «IST DAS OKAY?» zur Prävention von sexuellen Übergriffen an Kindern verfasst. 

Im Sportalltag sind enge Beziehungen zwischen Athleten und Trainer sowie deren Staff notwendig und wichtig. Was gilt es besonders zu beachten resp. wo müssen klare Richtlinien gezogen werden? 

Sexuelle Belästigung und Übergriffe drehen sich immer um Machtmissbrauch im Kontext von, Hierarchien und Abhängigkeiten. Insbesondere im Bereich des Sports, aber auch in anderen Bereichen. Diese Übergriffe sind niemals harmlos. Alle Personen im Sportumfeld müssen sich dieser Tatsache bewusst sein und entsprechend geschult werden. Die Schulung sollte nicht nur die Themen Nähe und Distanz, sondern auch Macht, Machtmissbrauch und die verantwortungsvolle Nutzung der eigenen Macht als Trainerin oder Trainer behandeln. 

Im Sport ist Körperkontakt oft unvermeidlich. Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung, sicherzustellen, dass Körperkontakt nur dann stattfindet, wenn er tatsächlich notwendig ist und dass die Athletinnen und Athleten darüber informiert sind, und auch die Option besteht, die Berührung abzulehnen. Es sollte immer die Möglichkeit bestehen, dass sich Athletinnen und Athleten gegen Körperkontakt äussern können. Es reicht nicht, Athletinnen und Athleten aufzufordern, Grenzverletzungen zu melden. Oft wird unterschätzt, dass für viele eine Meldung zu risikobehaftet ist. Kaum jemand wird eine Meldung machen, wenn sie davon ausgehen müssen, dass es negative Konsequenzen nach sich ziehen könnte.
 

 Wie kann diesem Problem entgegengewirkt werden?

Häufig ist keine klare Haltung da bezüglich Grenzen und Grenzverletzungen. Im Leistungs- und Profisportbereich wird Gewalt oft nicht als solche erkannt, sondern gehört in gewisser Weise zum Sport dazu und wird von den Trainerinnen und Trainern, den Sportlerinnen und Sportlern wie auch von der Gesellschaft normalisiert oder verharmlost. Wenn du als Sportlerin oder Sportler erfolgreich sein möchtest, musst du durchhalten und einen Weg finden, damit umzugehen. Im Spitzensport sind viele Formen von Gewalt, gerade auch psychische Gewalt, weit verbreitet, wie zum Beispiel das Anschreien oder das Abwerten. Ganz nach dem Motto: Wer was erreichen will, muss das aushalten können. 

Die Aufklärungsarbeit sollte bereits im Kinder- und Jugendsport beginnen. Kinder müssen wissen, dass niemand das Recht hat, sie anzuschreien, sie zu demütigen oder sie einfach so zu berühren. Andernfalls beginnt bereits in jungen Jahren die Normalisierung, und Kinder lernen, dass solche Praktiken zum Sport gehören. Das macht aber natürlich nur dann Sinn, wenn die Trainerinnen und Trainer diese Haltung auch teilen und grenzverletzendes Verhalten von Kolleginnen und Kollegen nicht tolerieren. 

👉Leitlinien gegen sexuelle Übergriffe im Sport
 

Oft hört man im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt Aussagen wie «Sie lügt doch und will nur Aufmerksamkeit», «Sie wollte es doch auch» oder auch «Sie ist einfach etwas prüde und kompliziert». Gleichzeitig werden über die Gegenseite folgende Aussagen gemacht «Er würde dies nie zulassen» oder «Er gibt Herz und Blut für diesen Sport; nie würde er das alles aufs Spiel setzen». 

Beliebtheit oder Macht schützen die Täterinnen und Täter. Je mächtiger oder wichtiger eine Person ist, desto schwieriger ist es für die Betroffenen, Gehör zu finden. Viele Betroffene haben das Gefühl, dass das, was ihnen widerfahren ist, nicht so schlimm war, und suchen den Fehler bei sich. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Glaubwürdigkeit von Betroffenen oft infrage gestellt wird. 

Viele Menschen wissen nicht viel über sexualisierte Gewalt, Wissenslücken werden mit Stereotypen und falschen Annahmen gefüllt. Prävention funktioniert nur, wenn mehr Wissen über sexualisierte Gewalt, über Täterstrategien, über Machtmissbrauche und Trauma vorhanden ist. Es ist unerlässlich, Betroffenen zu glauben. Wir müssen verstehen, dass der Grund, wieso wir ihnen oft nicht glauben, auf sexistischen und misogynen Haltungen fusst. Im Kontext Kinder ist es für viele schlicht unvorstellbar, dass ein netter Kollege sexuell übergriffig werden könnte. Die Zahlen sprechen aber eine andere Sprache.
 

Viele Opfer/Betroffene wenden sich oft nicht an eine Beratungsstelle, warum? 

Viele erkennen lange nicht, dass das, was ihnen widerfahren ist, sexuell übergriffig war. Die Unsicherheit bei der Einordnung von sexualisierter Gewalt sowohl bei den Betroffenen als auch in ihrem Umfeld führt dazu, dass der Schritt in Richtung Beratung oft nicht unternommen wird. Viele empfinden Scham für das Erlebte, da wir in einer Gesellschaft leben, die Frauen und Jugendlichen oft eine Mitschuld zuschreibt und ihnen das Gefühl vermittelt, sie hätten sich anders verhalten sollen, um solche Situationen zu vermeiden. 

Es besteht eine allgemeine Hemmschwelle, über sexualisierte Gewalt zu sprechen, und in einigen Fällen kann dies aus existenziellen Gründen besonders schwierig sein. Viele fühlen sich im sportlichen Umfeld stark mit ihrem Verein oder Verband verbunden, was die Offenlegung der Erfahrungen erschwert. 
 

Stellt der sportliche Kontext eine noch grössere Herausforderung dar?

Besonders herausfordernd ist die Tatsache, dass man das sportliche Umfeld, ähnlich wie am Arbeitsplatz, nicht von heute auf morgen verlassen kann und vor allem wahrscheinlich auch nicht verlassen will, ohne möglicherweise die gesamte Karriere zu gefährden. Der Nährboden für sexualisierte Gewalt im Sport wird oft durch strukturelle Faktoren aufrechterhalten wie starre Hierarchien, Machtungleichgewichte und Abhängigkeiten, einer toxischen Kultur also.
 

Prävention funktioniert nur, wenn mehr Wissen über sexualisierte Gewalt, über Täterstrategien, über Machtmissbrauche und Trauma vorhanden ist.
Agota Lavoyer

Die Unschuldsvermutung hat auch Gültigkeit bei sexueller Gewalt. Was können Sie uns zu diesem Thema aus ihren Erfahrungen mitgeben? Sofern es zu einer Anzeige kommt, wie oft kommt es zu einer Verurteilung?

Die Unschuldsvermutung ist ein äusserst wichtiges Prinzip in unserem rechtsstaatlichen System. Aus Studien weiss man, dass Falschanschuldigungen äusserst selten vorkommen. Das bedeutet, wenn jemand von einem sexuellen Übergriff berichtet, kann man mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass dies der Wahrheit entspricht. Das Prinzip der Unschuldsvermutung gilt übrigens nicht nur für die mutmasslichen Täterinnen oder Täter, sondern auch für die Betroffenen – auch sie dürfen nicht der Falschanschuldigung bezichtigt werden, was ja eine kriminelle Tat wäre. 

Sexualdelikte sind oft schwierig nachzuweisen. Wir müssen hinnehmen, dass es rechtstaatlich richtig sein kann, eine Person freizusprechen, auch wenn davon auszugehen ist, dass sie sexuell übergriffig war. Was uns aber nicht, und das ist ganz wichtig, von der ethischen Pflicht befreit, die betroffene Person zu unterstützen.  

Es ist auch wichtig zu beachten, dass viele sexuelle Übergriffe überhaupt nicht zur Anzeige gebracht werden. Eine Studie der GFS Bern aus dem Jahr 2019 kam zum Schluss, dass nur acht Prozent der befragten Betroffenen Anzeige erstatteten. Im Bereich des Sports ist wahrscheinlich ein noch geringerer Prozentsatz zu erwarten.
 

Was soll eine betroffene Person tun? Welches Vorgehen empfehlen Sie?

In erster Linie finde ich es wichtig, dass nicht mehr weggeschaut wird, wenn man grenzverletzendes Verhalten beobachtet. In vielen Fällen stellt sich im Nachhinein heraus, dass es durchaus Verdachtsmomente gab, die aber dann nicht weiterverfolgt wurden. Viele Ratschläge konzentrieren sich auf das Verhalten der betroffenen Person, obwohl diese möglicherweise in der spezifischen Situation nicht in der Lage ist zu reagieren oder nicht realisiert, dass sie Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden ist. Der Fokus sollte daher verstärkt auf die Rolle der «Bystanders» (Zeugen) gelegt werden. 

Eine Hilfestellung wurde durch die Implementierung des Ethik-Statuts des Schweizer Sports geschaffen. Dieses sieht vor, dass alle J+S-Leiter und Personen in Aufsichtspositionen eine Meldepflicht haben. Sie können sich entweder bei der nationalen Meldestelle Swiss Sport Integrity (SSI) beraten lassen oder direkt eine Meldung abgeben. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit, sich an die Opferhilfe Schweiz zu wenden, die anonym und kostenlos Beratungen anbietet. Es ist besonders wichtig, mit dieser Thematik nicht alleine zu bleiben, obwohl dies häufig und lange der Fall ist. Die Gefahr im eigenen Umfeld besteht darin, dass die Situation verharmlost wird. Deshalb ist es ratsam, sich an eine Fachperson zu wenden, die eine angemessene Einschätzung vornehmen kann. Eine weitere Massnahme besteht darin, die betroffene Person direkt auf ihr Verhalten anzusprechen, obwohl dies für sie äusserst schwierig oder sogar unmöglich sein kann. 

Im Idealfall ist eine direkte Rückmeldung an die grenzverletzende Trainerperson möglich, da ein vertrauensvolles Verhältnis besteht, in dem der bzw. die Sportlerin ernst genommen und respektiert wird. Die Trainerperson respektiert die persönlichen Grenzen der Athletinnen sowie Athleten und übernimmt Verantwortung. Sie entschuldigt sich und bedankt sich für die Rückmeldung. Das funktioniert aber natürlich nur, in einer gesunden Trainingskultur und wenn die Grenzverletzung aus Unachtsamkeit und nicht mit sexueller Absicht passiert ist.

Über das Buch «Ist das okay?»

Sexualisierte Gewalt an Kindern macht oft sprachlos. Doch wie spricht man mit Kindern darüber? Und wie schützt man sie möglichst wirksam? Prävention gelingt am besten, wenn sie unaufgeregt, in den Alltag eingebettet und regelmässig geschieht.

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