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Erwin Grossenbacher: «War nie der Wichtigste»

  • 17. Dezember 2020

Nach zwölf Jahren im Zentralvorstand, sieben davon als Verbandspräsident, tritt der Neuenkircher Erwin Grossenbacher Ende Jahr von seinem STV-Amt zurück. Trotz Negativschlagzeilen im letzten Jahr, konnte der 61-Jährige auch zahlreiche STV-Höhepunkte erleben. Grossenbacher gebührt zum Abschied die allerletzte STV-Stafette im aktuellen GYMlive.

Erwin Grossenbacher, in wenigen Tagen endet deine Amtszeit als STV-Zentralpräsident. Mit welchen Gefühlen blickst du auf die sieben Jahre an der Verbandsspitze zurück?
Erwin Grossenbacher: Auf die ersten sechs Jahre blicke ich mit einem sehr guten Gefühl zurück. Das letzte Jahr hätte nun in dieser Form nicht sein müssen. Momentan nimmt das Image des ganzen Turnverbandes Schaden, obwohl die Vorwürfe nur einen kleinen Teil betreffen. 99 Prozent unserer Arbeiten machen wir gut und der STV ist eine Top-Organisation.

Nach dem ‹verflixten› siebten Jahr trittst du als Zentralpräsident zurück. Was sind die Gründe?
Den Entscheid des Rücktritts habe ich bereits vor dem ETF 2019 in Aarau gefällt. Das «Eidgenössische» war für mich der Höhepunkt als Verbandspräsident. Ich wollte kein «Sesselkleber» sein. Schliesslich war ich insgesamt während zwölf Jahren im Zentralvorstand tätig. So lange dauert auch die Amtszeitbeschränkung für ‹normale› ZV-Mitglieder (Anm. d. Red.: Bei Antritt des Präsidiums fängt diese Zählung wieder bei null an). Ich bin der Meinung, dass auf strategischer Ebene ein regelmässiger Wechsel wichtig ist. Neue Leute bringen neue Ideen.

Vom Vize-Präsident im STV Reiden bis zum STV-Zentralpräsident. In 30 Jahren hast du dich über den Kantonalturnverband nach oben gearbeitet. Welches Turn-Amt hat dich am meisten geprägt?
Jedes Amt hatte etwas Wertvolles und somit seinen Reiz. Die Menschen und die Zusammenarbeit mit ihnen standen stets im Mittelpunkt. Für mich waren die jeweiligen Vorstandskollegen oder Mitarbeiter und ihre Ämter immer wichtiger gewesen. Als Präsident bist du nicht die wichtigste Person. Ein Oberturner im Verein oder der Techniker im Verband haben eine grössere Bedeutung. Die Präsidialämter sind zwar schön, aber ich war immer auf alle anderen angewiesen. Geprägt hat mich aber jedes Amt, das ich ausgeübt habe.

Corona, die Vorwürfe im Spitzensport, keine ‹gewöhnliche› AV sind Punkte, die dein letztes Amtsjahr geprägt haben. Ich nehme an, du hättest ein erfreulicheres Turnjahr zum Abschluss erhofft?
2020 hätte eigentlich ein Übergabejahr zwischen mir und meinem Nachfolger werden sollen. Die Einarbeitung in die verschiedenen nationalen und internationalen Gremien hat nicht stattfinden können, da die Konferenzen und Anlässe bekanntlich abgesagt wurden. Zugleich wäre es persönlich auch als schönes Abschiedsjahr mit Besuchen von vielen Turnanlässen und Delegiertenversammlungen angedacht gewesen. Auch die Abgeordnetenversammlung und die Verbandsleiterkonferenzen waren für mich stets wichtig. Dort fanden der Austausch und der direkte Kontakt mit den Mitgliederverbänden statt. Bis auf eine VLK ist mir alles verwehrt geblieben, was sehr schmerzt.


Wie sehr bedrücken dich die Vorwürfe, die in den letzten Wochen laut wurden?
Die Vorwürfe beschäftigen mich sehr und haben auch für manche schlaflose Nacht gesorgt. Obwohl ich mich an dieser Stelle gar nicht rechtfertigen will, empfinde ich die ganze Thematik sehr einseitig dargestellt. Natürlich darf es nicht sein, dass Trainer Unterdrückungen nach System ausüben. Die Vorfälle von 2007 und 2013 wurden aus meiner Optik nicht richtig aufgearbeitet. Trainer wurden zwar entlassen, aber man hat nicht an die Athletinnen gedacht. Man hätte die Vorkommnisse mit ihnen aufarbeiten müssen. Es tut mir sehr leid, dass diese Turnerinnen solches Leid erleben mussten. So etwas beschäftigt mich persönlich sehr. Nicht einverstanden bin ich hingegen mit gewissen Vorverurteilungen, dass Personen verurteilt werden, ehe man die ganze Wahrheit von beiden Seiten kennt.

Du übergibst den Verband mitten in der grössten Krise der letzten Jahre. Wie sehr schmerzt es dich, dass du den angestrebten Kulturwandel nicht mitfördern kannst?
Vielleicht ist es von aussen betrachtet auch gerade richtig, dass neben dem Chef Spitzensport, dem Geschäftsführer auch ein neuer Verbandspräsident übernimmt. Natürlich haben alle Fehler gemacht und zu wenig hingeschaut – auch ich als Zentralpräsident. Für meinen Nachfolger Fabio Corti ist es aber nicht gerecht, dass er nun den entstandenen Schaden bereinigen muss. Er kann aber auf einen topmotivierten Zentralvorstand zählen, das ist wichtig. Der Anstoss für eine neue Ausrichtung wurde zwar bereits gemacht. Die Umsetzung wird aber nicht in einem Jahr vonstattengehen, sondern länger dauern. Es schmerzt sicherlich, dass ich den Verband so übergeben muss.

Deine Stafettenvorgängerin Doris Zürcher möchte wissen, welches die schwierigste Herausforderung in deinem letzten Jahr als STV-Präsident mit der Corona-Krise war.
Die grösste Herausforderung war, dass die persönlichen Kontakte mit der Turnfamilie nicht so gepflegt werden konnten, wie wir es uns gewohnt sind. Wichtig ist, dass die Kontakte deshalb nicht verloren gehen und vor allem, dass sich die Turnvereine und ihre Mitglieder nicht an die jetzige Situation gewöhnen. Diese Gefahr besteht durchaus. Die Herausforderung besteht darin, die Turnenden zu motivieren, sich weiterhin sportlich zu betätigen. Alles was turnerisch möglich und erlaubt ist, sollte umgesetzt werden. Natürlich fehlten im Sommer auch all die Turnfeste.

Beim Amtsantritt hast du dich über die Begegnungen gefreut, die dich erwarten werden. Welche davon haben dich rückblickend am meisten bewegt?
Als Zentralpräsident hast du verschiedene Kontakte in die Politik, Wirtschaft oder zu den Medien. Ich bin mit Menschen zusammengekommen, mit denen ich sonst wohl nie Kontakt gehabt hätte. Am meisten Freude bereitet haben mir aber die Kontakte zu den STV-Mitgliedern und zu den verschiedenen Verbänden. Ich habe das Gefühl, dass bei der Zusammenarbeit mit den Verbänden in den letzten Jahren ein grosser Schritt vorwärts gemacht wurde, auch wenn das letzte Jahr ein Dämpfer war. Das Jahr 2020 richtig einzuordnen ist schwierig. Gerade weil es nun heisst, man habe alles falsch gemacht. Ich spüre, dass das Vertrauen in diesem Jahr stark gesunken ist. Das ist schade, weil ich die sechs vorherigen Jahre sehr gut in Erinnerung behalten werde.

Wie hat sich das Turnen und der STV in den zwölf Jahren, in denen du im Zentralvorstand (Anm. d. Red.: fünf Jahre als Verantwortlicher Finanzen) tätig warst, gewandelt?
Die Organisation ist mehr gefestigt. Der STV wurde professionalisiert, mehr Arbeitsplätze auf der Geschäftsstelle wurden geschaffen. Aber auch die Kantonalverbände haben sich mit der Schaffung von eigenen Geschäftsstellen professionalisiert. Ein Indiz, dass es wohl immer weniger Leute gibt, die im Ehrenamt tätig sein möchten oder können. Sei es wegen den Anforderungen, Ansprüchen oder anderen Gegebenheiten. Ich gehe davon aus, dass die Professionalisierung im Turnen weitergehen wird. Diesbezüglich darf nicht vergessen werden, dass der Zentralvorstand eigentlich auch ‹nur› im Nebenamt geführt wird. Das Turnen im Allgemeinen hat sich weiterentwickelt und wurde moderner. Ein passendes Beispiel dafür ist die Gymotion, ehemals STV-Gala. Aber auch im Spitzensport ist ein grosser Fortschritt erkennbar.

Wovon hast du als Person am meisten profitiert?
Schwierige Situationen gab es immer wieder. Der Umgang mit den Mitmenschen war stets wichtig. Aus schwierigen Situationen habe ich gelernt, Lösungen gemeinsam zu finden und diese auch im Team umzusetzen. Eine ehrenamtliche Karriere ist eine hervorragende Lebensschule auch in Bezug auf den Beruf.

Was würdest du rückblickend anders machen?
Auf die derzeitige Situation angesprochen, würde ich dem Spitzensport wohl mehr auf die Finger schauen und die Abläufe noch mehr hinterfragen. Auf das restliche Wirken als Zentralpräsident wüsste ich eigentlich nichts, was ich anders machen würde. Bis vor einem Jahr war ich mit unserem Wirken sehr zufrieden.

Was nimmst du von deiner Zeit an der STV-Spitze für deinen weiteren Lebensweg mit?

Die Erfahrung, welche ich in den vergangenen zwölf Jahren im Zentralvorstand sammeln durfte. Sei es in guten, aber auch in schwierigen Zeiten.

Was wird dir aus deiner Zeit als Zentralpräsident zukünftig am meisten fehlen?
Die Menschen. Der Kontakt zu den zahlreichen Verbänden. Was mir sicherlich nicht fehlen wird, sind die Medien.

Welche Bedeutung hatte es für dich, den grössten Sportverband der Schweiz zu präsidieren?

Es war mir eine grosse Ehre, den grössten Sportverband der Schweiz führen zu dürfen. Auch wenn ich mir stets bewusst war, dass es immer noch wichtigere Leute als den Präsidenten gab.

Gibt es irgendetwas, das du gerne als Zentralpräsident noch realisiert oder umgesetzt hättest?

Ich wünsche vor allem meinem Nachfolger Fabio Corti, dass es ihm gelingt, wieder Ruhe in den Verband zu bringen und dass er sowie die weiteren Verantwortlichen die Umsetzung des Kulturwandels realisieren können. Der STV soll diese neue Strategie in Ruhe angehen können.

Doris Zürcher möchte noch wissen, welches deine schönsten Aufgaben oder Erlebnisse als STV-Präsident waren?

Die schönsten Aufgaben waren das Führen der verschiedenen Sitzungen, wie Verbandsleiterkonferenz oder Abgeordnetenversammlung. Den direkten Kontakt zu den Mitgliedern habe ich immer sehr geschätzt. Die schönsten Erlebnisse waren das Eidgenössische Turnfest 2019 in Aarau und die Kunstturn-EM in Bern 2016. Dieser Anlass löste, nicht zuletzt auch dank den Schweizer Erfolgen, einen regelrechten Aufwärtstrend im Kunstturnen aus.

Welche Ziele und Träume hegst du für die Zeit nach dem STV-Zentralvorstand?
Mein nächstes Ziel wird sein, gemeinsam mit dem STV Neuenkirch und einem motivierten OK, als OK-Präsident in meiner Wohngemeinde 2024 ein schönes Verbandsturnfest Luzern, Ob- und Nidwalden durchzuführen. Zugleich bin ich auch OK-Präsident von den ‹ParAthletics› in Nottwil, einem internationalen Wettkampf von Parathletinnen und Parathleten. Ich möchte mir aber auch mehr Auszeiten nehmen, beispielsweise in unserem Ferienhaus im Bündnerland.

Text, Foto und Video: Thomas Ditzler

Diesen Beitrag findet ihr auch im GYMlive 6/2020 (erscheint am 17. Dezember).

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